Rotkäppchen muss weinen

Beate Teresa Hanika

Fischer Verlag 2009

224 Seiten, ISBN 978-3-596-85336-6

Malvina ist 13 Jahre alt. In ihrer Familie fühlt sie sich oft allein gelassen: ihre Mutter liegt den ganzen Tag mit Migräne im Bett und kümmert sich um niemanden, außer um sich selbst. Ihr Vater ist ein verschlossener, autoritärer Mann, blind für die Bedürfnisse seiner Kinder. Ihre älteren Geschwister sehen in Malvina nur ein kleines schwieriges Mädchen, das hauptsächlich Ärger macht.

So bemerkt niemand, dass die täglichen Besuche bei ihrem Großvater einen Schatten auf Malvinas Leben werfen.

Denn seitdem ihre Großmutter im Vorjahr an Krebs gestorben ist, versucht der Großvater immer wieder Malvina unter dem Vorwand krank und einsam zu sein in seine Wohnung zu locken. Von ihrer Familie genötigt und mit Vorwürfen konfrontiert, wird das Mädchen gezwungen, sich um ihren Großvater zu kümmern. Dass der alte Mann jedoch immer wieder Malvinas Grenzen verletzt und sie zu sexuellen Handlungen nötigt, scheint niemand zu bemerken.

Ein Lichtblick in Malvinas Leben ist ihre neue Freundschaft zu dem Jungen Klatsche, der sich für sie interessiert und versucht, sie für sich zu gewinnen, auch wenn sich Malvina oft abweisend und verschlossen verhält. Darüber hinaus findet sie Zuflucht in Erinnerungen an den letzten Sommer, den sie mit ihrer Freundin Lizzy unbeschwert verbracht hat. Doch nicht mal ihre Freunde ahnen, was Malvina Tag für Tag in der Wohnung ihres Großvaters erwartet. Nur die polnische Nachbarin des Großvaters spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist und versucht Malvina zum Reden zu bewegen.

Der jungen Autorin Beate Teresa Hanika ist mit ihrem Erstlingswerk ein kleines literarisches Meisterstück gelungen. Einfühlsam, aber ohne große Worte, beschreibt Hanika das Leben Malvinas, das sich zwischen Erinnerungen an den letzten Sommer und einer Gegenwart bewegt, die meistens grausam, manchmal aber doch auch schön ist. Während von dem Großvater eine Bedrohung ausgeht, der sich auch die LeserInnen nicht entziehen können, gelingt es der Autorin immer wieder, die angespannte Atmosphäre durch die kleinen Anekdoten aus dem vorherigen Sommer und die leise Liebesgeschichte zwischen Malvina und Klatsche aufzulockern. Diese „Verschnaufpausen“ sind bitter nötig, da man Malvinas Angst und Unsicherheit mit einer unbeschreiblichen Intensität miterlebt, die einen sehr mitnehmen kann. Während des Lesens durchläuft man einen Gefühlswechsel von Mitleid mit dem Mädchen, über Wut bzw. Fassungslosigkeit über die Ignoranz und das Desinteresse von Malvinas Familie, bis hin zur Hoffnung, dass Malvina zum Schluss Unterstützung und Hilfe bzw. die Kraft findet, sich aus ihrer unglücklichen Lage zu befreien.

Beate Teresa Hanika beschreibt manchmal detailliert und plastisch, manchmal thematisiert sie nur zwischen den Zeilen. Sie beweist ein ungeheures Gespür dafür, wann es nötig ist genau zu werden und wann der/die LeserIn Abstand braucht. Doch gerade die Dinge, die zwar unausgesprochen bleiben, aber dennoch subtil angedeutet werden oder sich hinter den Worten verstecken, lassen ahnen, wie es in Wirklichkeit aussieht. Dadurch werden Gefühle geweckt, die durch Worte allein niemals erreicht werden könnten. Der klare, poetische Schreibstil macht das Buch auch sprachlich gesehen zu etwas Besonderem.

„Rotkäppchen muss weinen“ ist eines der besten Bücher, die ich seit langem gelesen habe. Obwohl das Buch zum Schluss Hoffnung macht und Malvina endlich versuchen kann, ein normales Leben zu führen, hatte ich auch noch einige Zeit nach dem Lesen ein seltsames Gefühl im Bauch. Zu tief hatte ich mich in Malvinas Gedanken und Leben eingefühlt, als dass ich sie sofort wieder hätte gehen lassen können. Und genau darauf muss man bei der Lektüre dieser Geschichte gefasst sein: sie lässt einen nicht mehr los, während des Lesens und auch danach nicht. Das ist der wichtigste Grund, weshalb ich denke, dass „Rotkäppchen muss weinen“ als Schullektüre eher ungeeignet ist, denn gerade wegen der Intensität des Buches sollte man bei diesem Thema auf keinen Fall gezwungen werden es zu lesen. Besonders Jugendliche, die selbst Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht haben, könnten die Lektüre als qualvoll empfinden. Empfehlen würde ich das Buch zur freiwilligen Lektüre ab ca. 16 Jahren, aber nicht nur für Jugendliche, auch für Erwachsene kann es eine Bereicherung sein.

Katrin Schultze-Naumburg

 

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